Psychotherapie

Mag. Vedran Kurtović

Klinischer und Gesundheitspsychologe
Psychotherapeut

Auslöser oder Ursache – was ist der Unterschied? Lernen Sie Ihre Schemata kennen

Der Auslöser ist nicht die Ursache.

In unserem Alltag sind wir oft mit Situationen konfrontiert, in denen wir wörtlich und im übertragenen Sinne „aus der Rolle“ fallen, scheinbar automatisch emotional reagieren und uns im Nachhinein fragen, warum. Im schlimmsten Fall bereuen wir unsere Reaktion und müssen uns zusätzlich mit den Konsequenzen herumschlagen. Das kann so weit gehen, dass wichtige zwischenmenschliche Beziehungen immer wieder zerbrechen, man die Arbeit verliert oder sogar Probleme mit dem Gesetz bekommt. Dabei nehmen wir automatisch an, dass es an bestimmten Personen oder Situationskonstellationen liegt, dass wir immer wieder in den Sog unserer Emotionen geraten und die Beherrschung verlieren. Der Frage, ob das wirklich so ist, möchte ich hier nachgehen.

Zuerst sollte man versuchen eine scheinbar belanglose Frage zu beantworten: was ist der Unterschied zwischen einem Auslöser und einer Ursache?

Diese Frage können wir am einfachen Beispiel der Funktion einer Klinge an einer Haustür erörtern. Was ist die Voraussetzung damit es klingelt, was muss tatsächlich geschehen ? Unsere automatische Antwort ist oft –wenn jemand auf den Klingelknopf drückt. Wenn niemand auf den Knopf drückt, wird es kaum klingeln, nicht wahr? Die Person ist also der Auslöser des Klingelns. Das ist jedoch nur zum Teil richtig. Der Auslöser reicht alleine nicht aus. Nur wenn eine funktionsfähige Klingelanlage im Haus installiert ist, kann es klingeln. Und den Aufbau der eigenen Klingelanlage, samt allen ihren Knöpfen sollte man besser kennen(lernen). Im Modell der Schematherapie, einer Weiterentwicklung der kognitiven Verhaltenstherapie, nennt man diese „Knöpfe“ Schemata.

Doch was ist das eigentlich- ein „Schema“?

Vor dem Hintergrund einschneidender oder wiederholter Erfahrungen in Kindheit und Jugend entstehen bei jedem von uns bestimmte Muster. Ein Schema ist ein Muster von Gefühlen, Gedanken und Erinnerungen, der im Hintergrund schlummert und unsere Wahrnehmungen und unser Erleben in der Gegenwart steuert. Schemata „sitzen“ sehr tief, sind gut gebahnt. Man kann es sich wie eine Art „Computerprogramm” vorstellen, das in manchen Situationen durch auslösende Reize anspringt, hochgefahren und (für uns meist unbewusst) bedingt, dass wir die Situation in einer bestimmten Weise wahrnehmen und interpretieren, uns in einer bestimmten Weise fühlen und verhalten. Auch bedingt dieses Programm, wie wir zu anderen Menschen in Beziehung treten. Wir gehen also nicht unbefangen in Situationen hinein, sondern strukturieren sie mit unseren Schemata, die wie ein „Autopilot“ wirken und uns ohne unser Zutun fertige Lösungen aus der Vergangenheit zur Verfügung stellen. Das kann in vielen Lebenssituationen äußerst hilfreich und entlastend sein (bestimmte Abläufe beim Sport, zurückschrecken vor Gefahren, etc.). Das Problem dabei ist, einige Schemata werden auch (bzw. vor allem) in belastenden Situationen und durch die Frustration wichtiger Grundbedürfnisse in der frühen Kindheit angelegt. Diese Schemata sind also mit emotionalen Wunden gleichzusetzen. Dadurch reagieren wir in belastenden Situationen der Gegenwart, die den „alten“ durch bestimmte Merkmale ähneln, genauso wie damals, aus einem kindlichen Erlebnismuster heraus. Wir sehen die Welt für eine kurze Zeit wieder mit Kinderaugen,  alte Emotionen kommen durch. Das nennen wir in der Schematherapie einen „Kindmodus“.

Parallel dazu passiert auch etwas Interessantes. Gleichzeitig zu diesen alten Gefühlen hören wir auch wieder das Geschehen kommentierende, oft abwertend-fordernde Stimmen im Kopf. Viele bezeichnen sie als den “inneren Kritiker”, den “Richter” etc. In der Schematherapie wird das der „Innere-Eltern-Modus“ genannt: das sind Spuren internalisierter (verinnerlichter) strafender oder übermäßig fordernder Reaktionen wichtiger Bezugspersonen (meistens der Eltern) in uns. Das bedeutet keinesfalls, dass es unbedingt die realen Eltern in ihrer Gesamtpersönlichkeit sein müssen, sondern nur die Aspekte und die Art und Weise wie wir sie als Kinder erlebt und wahrgenommen haben. Sie „wirken“ dadurch in uns weiter. Wir denken, reden und handeln dann auch nach außen wie wir es vorgemacht bekommen und am Modell gelernt haben. Dann richtet sich der innere Antreiber, Bremser, Kritiker oder Bestrafer vielleicht nicht wie oft nach innen, sondern auf die anderen. In diesen kurzen Momenten sind wir also in einem inneren Spannungsfeld: „Opfer“ und „Täter“ zugleich. Das führt klarer weise zu vielen weiteren Problemen. Menschen, die im Hier und Jetzt nichts über unsere frühen Erfahrungen wissen und unser Verhalten nicht einordnen können, reagieren oft mit Rückzug, Unverständnis und/oder Ärger (ganz oft bedingt durch das Antriggern ihrer eigenen Schemata). Das verstärkt wiederum unsere schlechten Gefühle und Selbstbilder. Man bugsiert sich in einen Teufelskreis hinein.

Als Beispiel nehmen wir einen 34-jährigen Mann, nennen wir ihn Jürgen, der in seiner Kindheit immer wieder von wichtigen Bezugspersonen in der einen oder anderen Weise immer wieder verlassen worden ist. Jürgens Vater hat die Mutter bereits während ihrer Schwangerschaft nach einer turbulenten on/off Beziehung, die vom physischen und psychischen Missbrauch überschattet wurde, verlassen. Die Mutter, alleinerziehend und oft überfordert, hat seinen Sohn regelmäßig über längere Zeit in wechselnde Betreuungen gegeben. Zuerst haben es die bereits sehr alten und gesundheitlich angeschlagenen Großeltern versucht, danach die beste Freundin der Mutter und anschließend wechselnde, durch die dürftige Bezahlung distanzierte und relativ junge Babysitterinnen. Als Jürgen älter wurde traute sich die Mutter neue Beziehungen einzugehen, geriet aber dabei immer wieder an problematische, oft gewalttätige Männer. Es lag auf der Hand dass keiner von ihnen eine stabile, vertrauensvolle Beziehung zum Jürgen aufbauen konnte und immer nach kurzer Zeit komplett aus seinem Leben verschwand.

Ein wesentliches emotionales Grundbedürfnis des Menschen ist das nach sicherer Bindung. Es ist das Bedürfnis des Kindes danach, dass wichtige Bezugspersonen sicher und konstant erreichbar sind und zuverlässig und liebevoll für das Kind sorgen. In Jürgens Kindheit fand eine schwerwiegende Frustration dieses Grundbedürfnisses statt. Diese Tatsache führte in seinem Fall zur Entwicklung des Schemas Verlassenheit/Instabilität. Als Erwachsener macht Jürgen wiederholt die leidvolle Erfahrung, dass seine Beziehungen, die ihm grundsätzlich sehr wichtig sind, immer wieder scheitern und er sich das beim besten Willen nicht erklären kann. Jürgen „hängt“ an seinen Partnerinnen und erstickt sie, bis sie ihn wegstoßen. Er ist oft rasend eifersüchtig und greift seine Partnerin bei nur geringfügigen, vorübergehenden Trennungen an. Es ist sogar vorgekommen dass ihm mal die Hand ausgerutscht sei. Die panische Angst vor Verlust und Verlassenheit ist ihm nur in Form einer diffusen Anspannung bewusst. Jürgen ist es nicht klar dass er, wenn er Menschen näher kennenlernt oder eine Beziehung einzugehen versucht, im Grunde von Anfang nichts anderes erwartet, als dass sie ihn irgendwann allein lassen werden. Er kann kein Vertrauen in die Stabilität einer Beziehung entwickeln, dazu hat er auch nicht gelernt seine Gefühle angemessen zu regulieren. Seine Beziehungsmuster und sein Lebensstil haben ständige Trennungen zu Folge. Jürgen verfällt deswegen oft in tiefe Depressionen, wenn er tatsächlich einen Verlust erlebt. Er fängt irgendwann mal an resigniert intime Beziehungen zu vermeiden, und trinkt viel wenn er alleine ist.

Beim genauen hinschauen merkt man auch, dass es ebenfalls ein bestimmtes Muster bei Jürgens Mutter gibt. Sie scheint immer wieder zu Missbrauch und Misshandlung neigende, emotional kalte Partner auszuwählen. Sie ist selber von ihrem Vater oft psychisch misshandelt, abgewertet und geschlagen worden und hat dadurch Schemata des Missbrauchs und der emotionalen Entbehrung entwickelt.

Nicht nur bezüglich des Schemas Verlassenheit/Instabilität, auch hinsichtlich aller anderen Schemata ist davon auszugehen, dass sie sich entwickelt haben, weil zentrale Grundbedürfnisse innerhalb der Entwicklung nicht oder nicht ausreichend erfüllt worden sind. Nicht immer müssen Erfahrungen vorliegen, die offensichtlich  schädigend waren (wie die im Beispiel von Jürgen und seiner Mutter geschilderten). Es kann auch eine mangelnde Bedürfnisbefriedigung vorliegen, wenn es einer Person in Kindheit und Jugend “an nichts gemangelt” hat und die Eltern “alles Erdenkliche” für sie getan haben. In diesem Falle wäre unter Umständen das Bedürfnis  nach Autonomie, Grenzen und Erprobung von Fähigkeiten nicht ausreichend erfüllt worden. Das würde natürlich andere (negative) Erlebnisweisen als die im Beispiel von Jürgen zur Folge haben, zum Beispiel Vermeidung, sich neuen Herausforderungen zu stellen oder eigene Wege zu gehen. Eine Kurzbeschreibung anderer Schemata finden sie hier.

Schemata rufen, wie Jürgens Beispiel zeigt, viele schmerzvolle Gefühle hervor. Diese müssen dann irgendwie bewältigt werden. Die Schematherapie geht davon aus, dass es grundsätzlich drei Arten der Bewältigung der aus einem Schema resultierenden negativen Gefühle gibt. Sie sind eigentlich die raffiniertere Varianten der Kampf, Flucht- und Unterwerfungsmuster der Tiere: Sich-FügenVermeiden und die sogenannte Überkompensation. Oft überwiegt im Einzelfall eine dieser drei Strategien, es können aber auch verschiedene nebeneinander bestehen.

Zum Beispiel bewältigen die Menschen ein Verlassenheitsschema dadurch, dass sie dem Schema unbewusst nachgeben, sich ihrem Schema “fügen”. Sie halten ihr Schema unbewusst für ihr gegebenes Schicksal. Das wäre der Fall, wenn Menschen als Erwachsene immer wieder die Kindheitssituationen des Verlassenwerdens, die das Schema gebildet haben, auf bestimmte Art und Weise wiederholen, zum Beispiel, indem sie immer wieder Beziehungen mit PartnerInnen eingehen, die höchstwahrscheinlich wenig Stabilität und Sicherheit bieten können, weil sie zum Beispiel bereits anderweitig gebunden, emotional instabil oder Substanzabhängig sind.

Die Bewältigung durch Überkompensation bestünde im Falle des Verlassenheitsschemas darin, dass Betroffene ihre Beziehungen selbst nach kürzester Zeit und bei geringstem Anlass beenden („Ich verlasse, statt verlassen zu werden“) . Dies geschieht um damit der Partnerin oder dem Partner sozusagen (unbewusst) zuvorzukommen.

Die meisten PatientInnen kommen zu einem Therapeuten in irgendeinem Bewältigungsmodus.

Vermeidung kommt oft dazu. Jürgens vermehrter Alkoholkonsum dient dazu um sich abzulenken- vor allem von den schmerzhaften Gefühlen und einer Sehnsucht nach einer engen, vertrauensvollen und stabilen Beziehung.

Der „Helfer“, oder die in der Schematherapie entscheidende Instanz ist der sogenannte Modus des gesunden Erwachsenen, man könnte ihn auch den Vertreter des Realitätsprinzips nennen. An der Stärke dieses Persönlichkeitsanteils liegt es, ob wir aus dem Sog der aktivierten Kind-, Eltern- und Bewältigungsmodi aussteigen und zu einer neuen Lösung „aufsteigen“ können. Dazu gehört seine anderen, dysfunktionalen Modi zuerst einmal überhaupt achtsam wahrnehmen zu können. Der gesunde Erwachsene sollte also in der Lage sein achtsam den aktivierten Zustand zu erkennen, aus dem Autopiloten „auszusteigen“, die kindlichen Bedürfnisse erkennen und zu versorgen. Er handelt langfristig orientiert und ist psychologisch flexibel, kann also der Situation angemessen  und vernünftig reagieren.

Genau das geschieht in einer Schematherapie: Schritt für Schritt wird den PatientInnen beigebracht die beschriebenen Strukturen zu erkennen und den gesunden Anteil systematisch zu stärken. Unterstützt durch die sogenannte Nachbeelterung und eine spezifische therapeutische Beziehung erlernt man durch erlebnisorientierte Methoden (Imaginationsübungen, Stuhldialoge etc.) Techniken zur Unterbrechung von schädlichen Verhaltensmustern. Unsere Schemata können nicht “überschrieben” werden. Sie bleiben im Hintergrund erhalten, “schlummern” und können immer wieder zu “Rückfällen” führen wenn die bewusste Handlungskontrolle des gesunden Erwachsenen nachlässt. Durch das systematische, achtsame Üben neuer, alternativer Verhaltensweisen werden diese aber immer besser gebahnt und laufen zunehmend automatischer ab.

Schematherapeutische Selbsthilfeliteratur:

Roediger Eckhart (2014) “Wer A sagt… muss noch lange nicht B sagen: Lebensfallen und lästige Gewohnheiten hinter sich lassen”

Roediger Eckhart (2010) “Raus aus den Lebensfallen! Das Schematherapiepatientenbuch”